Reinhard Mey: Gib mir Musik! - Dr. Antje Vollmer zur
Mairegen-Tournee10. April 2012
Reinhard Mey: Es sind die Zwischentöne, die die Welt
verändern
62 ausverkaufte Konzerte in 62 Tagen, ohne Pause, ohne in der
Spannung nachzulassen, Abend für Abend drei Stunden lang einsam mit
der Gitarre auf der Bühne, immer nahe am perfekten Moment, in dem
alles gelingt – das schaffen nur ganz wenige Künstler. Reinhard Mey
schafft das.
Es ist nicht so, dass er das leichthin und spielend schaffen würde. Das
wäre auch gar nicht möglich bei der Präzision und ehernen Disziplin, der
er sich unterwirft, bei der Sprachgenauigkeit seiner Texte und Poesie,
die nicht einen Versprecher oder Patzer erlauben, nicht einmal in den
Live-Zwischentexten. Es widerspräche auch der spürbaren
Schüchternheit, mit der er – nach drei Jahren Bühnenabstinenz –
zurückkommt. Fragend, tastend, staunend, dass sein Publikum noch
immer da ist und nur eines will: „Gib mir Musik!“ Und er sagt allen
Ernstes „Ich wusste nicht, ob ich noch singen könnte. Aber ich habe ja
auch 45 Jahre geübt!“
Sie vertrauen ihm. Sie liefern sich ihm nicht aus, aber sie gehen mit ihm
eine weite Strecke an so einem Abend: Immer ist da die Erinnerung an
eine magische Kinderwelt (Spring auf den blanken Stein), an einen lange
vergessenen Menschen (Gute Seele, Schwester, Freund), an das
Aufblitzen einer kristallinen Sehnsucht (Ich wünschte, es wär noch mal
viertel vor sieben und ich wünschte, ich käme nach Haus.)
Niemals kommt man nach Haus, aber nach so einem Konzert ist doch
bewiesen: Melancholie verschafft einen genaueren Blick auf die Welt, sie
widersteht der Lüge der falschen Bilder und der Überrumpelung durch
den zeitgeistigen Kitsch. Manchmal wird es dabei plötzlich ganz ernst:
„Wenn von allen stolzen Fahnen mir nur noch die weiße bleibt...“
Musik ist für Reinhard Mey selten nur ein Spiel. Sie ist Lebensmittel, sie
ist Notwendigkeit, sie ist Zeit-Deutung – und sie hilft ihm, zu leben.
Er lebt nicht allein, auch nicht als Musiker. Bei genauerem Zuhören
treten mit ihm viele auf, deren Art zu singen, zu komponieren und zu
beobachten, ihn geprägt hat. Er ist ja selbst ein Stück Musikgeschichte.
Irgendwie stehen sie da auf der Bühne neben ihm: Hans Dieter Hüsch,
Hannes Wader, Konstantin Wecker und Klaus Hoffmann mit ganzen
Liedern oder Hommagen, Bettina Wegner, Peter Kraus und Annett
Lousian in leicht hingeworfenen, ironischen Textzitaten, die die Zuhörer
sofort verstehen. Überhaupt liebt er Ironie und Selbstironie als
auflockerndes Stilelement, besonders in den schrägen Bezügen zu den
eigenen Kult-Liedern (Gute Nacht , Freunde), die jede falsche Verehrung
wegpusten. Verehrung lässt er nur zu für seine großen musikalischen
Vorbilder, die durch einzelne Text- oder Refrain-Passagen wehen : Da ist
Bob Dylan neben dem frühen Skiffle-König Lonnie Donegon, Neil Young
mit seinem „Heart of Gold“neben dem großen James Taylor mit der
Perfektion seiner Gitarrenbegleitung und Ray Charles mit seinem „Hit
the road, Jack“ (Bunter Hund ). Daß Reinhard Mey nicht zu denken ist
ohne die Lied- und Balladen-Tradition der französischen Chansonniers
George Brassens, Barbara, sogar Francoise Hardy, versteht sich von
selbst.
Der Höhepunkt dieses Konzertes, die große Eisenbahn-Ballade, steht in
der amerikanischen Tradition der frühen 68er, wo der Country-Song in
den Liedern von Woody und Arlo Guthrie unumkehrbar kritisch und
politisch wurde, indem er vom sentimental-patriotischen „Wir“ zum
rebellischen „Ich“ wechselte. Das ist schon meisterlich, wie da über
volle 11 Minuten die ganze deutsche Geschichte – von den frühen Tagen
der Arbeiterkolonnen und Stahlbarone bis zu den Deportationszügen der
NS-Zeit und den echten Nachkriegs-Piraten der Kohlen-Klau-Kinder - in
den Schienenstrang einer nächtlichen Eisenbahnfahrt gelegt wird. Ganz
abgesehen von der grandiosen Qualität, dies alles in einem Live-Auftritt
mühelos auf die Reihe zu bringen.
Diese epische Ballade folgt fast unmittelbar auf den anderen Herzflatter-
Moment, wo Reinhard Mey mit dem Wiegenlied für sein „fernes Kindes“
(Drachenblut) eine solche Stille im Saal erzeugt, dass niemand zu atmen
wagt. Dies Lied wird nicht eingeleitet und nicht aufgefangen, es steht
einfach mitten im Raum. Dass es hier um etwas ganz Anderes, sehr
Persönliches geht, spürt man beim ersten Ton.
Es gibt kein Reinhard Mey- Konzert ohne ein politisches Lied. Das
Publikum – der ewigen, seichten Narzismen der Casting-Shows mehr als
überdrüssig – begrüßt gerade dies mit besonders warmem Applaus. Hier
ist einer, der nie in Reih und Glied ging, auch nicht in den Reihen linker
Ideologen. Das bleibt auch einer, der selbst heute seine Söhne nicht in
Auslandseinsätze schicken würde, nicht einmal in die der modernen
Menschenrechts-Bellizisten. „Sei wachsam!“ – das ist kein lautes
Agitationslied, aber quer zum Zeitgeist steht es doch.
Reinhard Mey ist überhaupt viel weniger selbstbezogen, als man ihm
oberflächlich andichtet. Zwar wäre er kein Chansonnier, wenn er nicht
über die Liebe, den Kummer, die Einsamkeit singen würde: Die erstaunte
Feststellung: „Wir sind tatsächlich eins geworden“ gehört auf dieser CD
zu den zärtlichsten Erkenntnissen, die in einem leicht verzögerten
Walzer daher kommen. Aber vor allem liebt er die kleinen Geschichten
vom Leben anderer, meist unauffälliger Menschen. So holt er „Antje“,
die Königin einer Imbiss-Bude, aus ihrem Frittendunst für die Ewigkeit
eines Songs ebenso auf die Bühne wie das verliebte Nachbarmädchen,
die Kumpels aus der Skiffleband im alten Fuchsbau, Berlin-
Reinickendorf. Nie weiß er es besser als die, die er besingt. Vielleicht
gibt es das ja wirklich noch, dass einer einen respektvollen, genauen
Blick hat für die vielen kleinen Welten, die um unsere eigene kleine Welt
kreisen. In diesen Liedern gibt es dann auch besonders viele
differenzierte Akkorde als musikalische Beigabe.
So ein Konzert wäre fast zu intim und filigran, wenn es dazwischen nicht
sehr viele sehr komische Passagen gäbe. Das hat sich , meist als
witziger Kommentar zum Mehrheits-Musikgeschmack, im Werk von
Reinhard Mey durchgezogen von der frühen provozierenden
„Annabelle“ bis zu den „Männern im Baumarkt“, dem Danklied an die
„gute Fee“, die nicht jeden Wunsch erfüllt, und der Selbsterkenntnis
eines Familien- und Alles- Ausputzer-Menschen, der Reinhard Mey auch
ist (Ich bin).
Er ist eben immer genau so alt, wie er ist, er ist überhaupt , wie er ist.
Ein Lebenskünstler, ein Lebensbegleiter, ein Liedermacher.
Antje Vollmer
April 2012
© 2013 Dr. Antje
Vollmer